Helmholtz-Zentrum Deutsches Geoforschungszentrum

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Induziert oder natürlich? Neue Einblicke in eine ungewöhnliche Bebenserie in Kanada

Eine Studie zeigt, dass die kontinuierliche Einleitung von Industrieabwässern auch nach 10 Jahren Erdbeben in Schwächezonen erzeugen kann

Zusammenfassung

Zwischen November 2022 und März 2023 erschütterte eine ungewöhnliche Erdbebenserie die Region um Peace River im Norden der kanadischen Provinz Alberta. Da es in der Region auch industrielle Aktivitäten im geologischen Untergrund gibt, stellte sich die Frage, ob die Beben dadurch induziert oder natürlichen Ursprungs waren. Eine Studie von Forschenden um Hannes Vasyura-Bathke und Torsten Dahm vom Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam, gemeinsam mit Kolleg:innen aus Kanada bestätigt den Verdacht, dass die Beben durch die bereits 10 Jahre zuvor begonnene industrielle Abwasserentsorgung ausgelöst wurden. Die Erkenntnisse beruhen auf einer detaillierten Analyse der Beben auf Basis von seismischen Messungen und Satelliten-gestütztem Radar (InSAR), die mithilfe von modernen Methoden der Statistik ausgewertet wurden. Die Studie ist im Fachmagazin Nature Communications Earth & Environment erschienen.

Erdbebenserie nahe Peace River: Natürlichen Ursprungs oder vom Menschen gemacht?

Im November 2022 begann eine Serie von Erdbeben an einem bis dahin seismisch relativ ruhigen Ort in der Nähe der Stadt Peace River im Norden von Alberta, Kanada. Dem Hauptbeben mit der Magnitude MW 5,2 am 30. November gingen vier Vorbeben mit Magnituden über 4,0 voraus. Es folgte eine längere Serie von Nachbeben, darunter zwei mit Magnituden MW 4,5 und 4,6 am 16. März 2023.

In der Region gibt es umfangreiche industrielle Aktivitäten, darunter die Förderung von Schweröl durch Dampfinjektion sowie die massive Entsorgung von Abwasser in unterschiedlichen Tiefen im Gestein. Dies hat zu einer Diskussion darüber geführt, ob die ungewöhnlich starken Erdbeben natürlichen Ursprungs sind oder durch menschliche Aktivitäten verursacht wurden.

Erdbeben, die durch menschliche Aktivitäten ausgelöst werden, treten in der Regel an Schwächezonen im Gestein auf. Sie ähneln natürlichen Erdbeben, beginnen aber in geringerer Tiefe. Obwohl das Gebiet seismisch eher ruhig ist, hat es in der Vergangenheit im Umkreis von 500 Kilometern um Peace River sowohl natürliche als auch nachweislich durch industrielle Aktivitäten ausgelöste Erdbeben gegeben.

Im Jahr 2023 gingen die lokalen  Behörden zunächst von natürlichen Beben aus, da im fraglichen Zeitraum in der Nähe kein hydraulisches Fracking betrieben wurde, sich die Injektionsraten für die Abwasserentsorgung im vergangenen Jahr nicht verändert hatten und eine erste Schätzung der Herdtiefe mit sechs Kilometern unter den Erwartungen für ausgelöste Erdbeben an diesem Ort lag.

Erste wissenschaftliche Untersuchungen führten jedoch zu einer anderen Bewertung: Schulz et al.1 interpretierten die Beben in erster Linie als Folge der Abwasserinjektion in einer tiefen Entsorgungsbohrung etwa 3,5 Kilometer östlich des Epizentrums des Hauptbebens. Sie reicht in das salzhaltige Aquifersystem innerhalb der sogenannten Leduc-Formation.

Forschungsprojekt zum Ursprung der Erdbeben

Ein Team um Hannes Vasyura-Bathke, Wissenschaftler in der GFZ-Sektion 2.1 „Erdbeben- und Vulkanphysik“, und Torsten Dahm, Leiter derselben Sektion und Professor an der Universität Potsdam, konnte nun zur weiteren Aufklärung der unterirdischen Vorgänge beitragen. Gemeinsam mit Wissenschaftler:innen aus Kanada – von der University of Calgary, dem „Canadian Hazards Information Service“ und dem „Canada Centre for Mapping and Earth Observation“ – haben sie die Erdbebenserie in Peace River im Detail untersucht. Ihre Studie, die im Fachmagazin Nature Communications Earth and Environment erschienen ist, erhärtet die Vermutung der Kolleg:innen, dass die Beben durch die Abwasserinjektionen beeinflusst worden sind.

„Wir wollten genau analysieren, wie, wo und wann die Beben aufgetreten sind, um so auf ihren Ursprung rückschließen zu können“, erläutert Hannes Vasyura-Bathke das Ziel der Studie. Also haben die Forschenden das Hauptbeben und über 130 Nachbeben analysiert, die zwischen November 2022 und März 2023 aufgetreten sind. Sie verwendeten verschiedene Methoden, um die Merkmale des Hauptbebens, die existierenden Schwächezonen und die Möglichkeit künftiger Beben zu verstehen.

Insbesondere stützten sie sich sowohl auf seismische Daten als auch auf spezielle Fernerkundungsdaten – sogenanntes Interferometrisches Radar (InSAR), mit dessen Hilfe Verformungen der Erdoberfläche gemessen werden können. Zur Auswertung der Daten nutzten sie eine Methode der Statistik, die sogenannte Bayes‘sche Inferenz. Hierbei handelt es sich um ein Konzept, mit dem durch Modellierung gewonnene Hypothesen durch sukzessive integrierte Daten getestet werden können. „Die Kombination von InSAR und Seismologie hilft, die Unsicherheit unserer Analysen erheblich zu reduzieren“, betont Vasyura-Bathke.

Die Anatomie des Verwerfungssystems

Auf diese Weise konnten die Forschenden den Herd von 132 Erdbeben rekonstruieren sowie den genaueren Verlauf und die Bruchmerkmale von acht größeren Ereignissen. Die Verteilung der Erdbeben zeigt eine Anatomie des Bruchsystems mit vier nahezu parallel verlaufenden Schwächezonen im Gestein, die sich nach Nordwesten erstrecken und deren Reaktivierung unter den aktuellen Spannungsverhältnissen begünstigt wird. Diese werden jedoch von einer quer verlaufenden Störungszone durchschnitten, deren Reaktivierung schwierig ist. Einige Bereiche der dargestellten Schwächezonen scheinen noch nicht gebrochen zu sein, was auf eine anhaltende seismische Gefährdung hindeutet.

Das Hauptbeben hatte seinen Ursprung in etwa fünf Kilometer Tiefe, breitete sich entlang der Schwächezone nach oben in Richtung der Injektionsquelle aus und endete in etwa zwei Kilometer Tiefe.

Erdbeben durch industrielle Abwasserentsorgung

„Unsere Ergebnisse stützen die Schlussfolgerung, dass die Einleitung von Abwasser in die Leduc-Formation wahrscheinlich eine Schlüsselrolle bei der Auslösung dieser Sequenz spielte“, resümiert Hannes Vasyura-Bathke. „Wenn die Einschätzung korrekt ist, ist das Hauptbeben dieser Serie das bis heute stärkste von menschlichen Aktivitäten ausgelöste Erdbeben im westlichen Kanada.“

Grundsätzlich ist die Nähe zu kristallinem Grundgebirge ein wichtiger geologischer Risikofaktor für die von menschlicher Aktivität verursachten Erdbeben. Die Leduc-Formation, in die das Abwasser injiziert wurde, liegt direkt über dem präkambrischen Grundgebirge. Dieser direkte Kontakt erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine hydrologische Verbindung zwischen der Leduc-Formation und den tiefliegenden Schwächezonen besteht. Und eine solche Verbindung unterstützt die These, dass die Erdbeben durch die anhaltenden Injektionen beeinflusst wurden.

Eine Diagnose mit Konsequenzen: Auch zehn Jahre nach Injektionsbeginn können erstmals Beben auftreten

„Besonders bemerkenswert ist die außergewöhnliche Zeitspanne von elf Jahren zwischen dem Beginn der Abwasserinjektion und der Aktivierung der Störung. Das spiegelt die lange Zeit wider, die das Gestein offenbar brauchte, um in einen kritischen Zustand zu kommen“, vermutet Hannes Vasyura-Bathke.

„Unsere Beobachtungen zeigen, dass Schwächezonen im Gestein durch die anhaltende Abwasserinjektion auch zehn Jahre nach Beginn der Entsorgungsaktivitäten aktiviert werden können. Es ist also möglich, dass die weitere Entsorgung zu weiteren Erdbeben führt“, betont Koautor Torsten Dahm. „Die Ergebnisse aus Kanada zeigen, wie stark verzögert Erdbeben ausgelöst werden können und wie wichtig es daher ist, Regionen mit industriellen Aktivitäten im Untergrund langfristig zu überwachen.“

 

Originalpublikation

Vasyura-Bathke, H., Dettmer, J., Biegel, K. et al. Bayesian inference elucidates fault-system anatomy and resurgent earthquakes induced by continuing saltwater disposal. Commun Earth Environ 4, 407 (2023). DOI: 10.1038/s43247-023-01064-1
https://doi.org/10.1038/s43247-023-01064-1

1Schultz, R. et al. Disposal from in situ bitumen recovery induced the ML 5.6 Peace River earthquake. Geophys. Res. Lett. 50, e2023GL102940 (2023). https://doi.org/10.1029/2023GL102940

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