Zusammenfassung
Die weltweit stärksten Erdbeben entstehen an Subduktionszonen. Dort gleitet eine tektonische Platte unter eine andere, wobei sie sich im Bereich der sogenannten „Megathrust“ immer wieder verhaken und lösen. Wenn sich die aufgebaute Spannung in einem Ruck löst, entstehen Erdbeben. Dass die tektonischen Prozesse im Vorfeld großer Beben in den Tiefen der Erde auch dauerhafte Spuren in der darüber liegenden Landschaft hinterlassen, wurde schon länger beobachtet. Nun hat ein internationales Forschungsteam um Bar Oryan, jetzt UC San Diego, unter Beteiligung von Luca Malatesta vom Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ erstmals einen Mechanismus hierfür identifiziert und in der Fachzeitschrift Science Advances publiziert. Demnach heben im Zeitraum zwischen den großen Beben Tausende von kleinen Erdbeben oberhalb der Megathrust einen schmalen Streifen Land an. Sie sind entsprechend der Kopplungen und Spannungen in der Megathrust verteilt. Daher lassen sich anhand der Landhebung Rückschlüsse auf die Dimension stark gekoppelter Bereiche und damit auf Lage und Gefährdungspotenzial künftiger großer Beben ziehen. Dies ist besonders nützlich in Gebieten, in denen Erdbeben und Landschaftsverformungen nicht kontinuierlich beobachtet werden können. Und es hilft, die Mechanismen großer Beben zu verstehen.
Der Mechanismus starker Beben und Tsunamis an Subduktionszonen
Die größten Erdbeben der Erde entstehen entlang von Subduktionszonen an den Rändern der Ozeane, wo eine tektonische Platte unter eine andere gleitet. Die gigantische Kontaktfläche zwischen den Platten wird mit dem englischen Begriff „Megathrust“ bezeichnet. Sie ist nicht glatt und rutschig, sodass das Gleiten nicht reibungslos abläuft. Stattdessen verhaken sich die Platten aufgrund ihrer rauen Oberflächen ineinander. Wenn die Reibung zwischen den beiden Platten hoch ist, spricht man von „starker Kopplung“. Dann biegt sich die obere Platte wie ein elastisches Sprungbrett mit der nach unten gleitenden Platte, bis sie sich nicht mehr weiter biegen kann und zurückfedert. Dadurch bricht die Kontaktfläche auf und es wird Energie freigesetzt: Dies ist das Erdbeben.
In einer Subduktionszone kann die obere Platte so auf einer Länge von Hunderten von Kilometern Dutzende von Metern nach unten gebogen werden. Wenn über ihr Ozean liegt, kann sie beim Zurückfedern plötzlich ein riesiges Volumen an Meerwasser verdrängen und einen zerstörerischen Tsunami auslösen, der ganze Ozeane überqueren und auch noch in einer Entfernung von Tausenden von Kilometern Zerstörung anrichten kann.
Motivation: Bestimmung der hochgradig gekoppelten Kontaktfläche von tektonischen Platten
Je größer der hochgradig gekoppelte Kontaktbereich in einer Subduktionszone ist, desto mehr seismische Energie kann er bei einem Erdbeben freisetzen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, die Größe der Kontaktfläche möglichst genau zu bestimmen, um das potenzielle Ausmaß eines möglichen Erdbebens abschätzen zu können und entsprechende Vorbereitungen zu treffen, zum Beispiel durch Anpassung der Bauvorschriften oder durch die Entwicklung von Notfallstrategien.
Die Bestimmung der hochgradig gekoppelten Kontaktfläche tektonischer Platten ist allerdings eine Herausforderung, da sie kaum direkt zugänglich ist. Die Forschenden nutzen dafür in der Regel eine von zwei Möglichkeiten: Entweder messen sie Landverformungen bei einem Beben oder die langsame Bewegung des Bodens im Vorfeld eines Erdbebens. Beide Methoden liefern allerdings nur eine Momentaufnahme des Erdbebensystems.
Die Rolle der Landschaftsgestalt
„Im Gegensatz dazu zeichnen Landschaften durch ihre Gestalt die kombinierten Effekte tektonischer und oberflächlicher Prozesse, wie zum Beispiel Erdbeben und Flusserosion, über Hunderttausende von Jahren auf“, erläutert Dr. Luca Malatesta, Arbeitsgruppenleiter in der GFZ-Sektion 4.7 „Erdoberflächenprozessmodellierung“.
Frühere Studien haben eine vielversprechende Korrelation zwischen der Ausdehnung der stark gekoppelten Kontaktfläche und Merkmalen der darüber liegenden Subduktionslandschaft festgestellt, wie etwa wie z. B. der Rand des Flachwasser-Kontinentalschelfs entlang der Küstenlinien der Subduktionszonen an der Westseite des amerikanischen Kontinents. Bislang war jedoch unklar, welcher Mechanismus diese Beobachtungen erklären könnte.
Neuer Ansatz: Computersimulation von Millionen kleiner Beben
Nun hat ein Forschungsteam um Dr. Bar Oryan, ehemals ENS Paris, nun UC San Diego (USA), mit Dr. Jean-Arthur Olive, ENS Paris, Prof. Dr. Romain Jolivet, ENS Paris – und derzeit Humboldt-Gastwissenschaftler am GFZ – und GFZ-Forscher Dr. Luca Malatesta, erstmals einen solchen Mechanismus aufgedeckt. Mithilfe eines Computermodells simulierten sie Millionen von kleinen, kaum wahrnehmbaren Erdbeben, die zwischen den sehr großen Subduktionsbeben auftreten. Diese Beben konzentrieren sich oberhalb des Randes des stark gekoppelten Bereichs, wo die Spannungsänderungen am größten sind.
„Auch wenn es für sich genommen nicht wahrnehmbar ist, trägt jedes kleine Erdbeben zu einer allmählichen Verschiebung der Landschaft bei. Im Laufe der Jahrhunderte häufen sich diese winzigen Verschiebungen und heben einen Landstreifen an, der den Rand des hochgradig gekoppelten Bereichs markiert“, erläutert Luca Malatesta.
Die Forschenden haben ihr Modell für drei verschiedene Subduktionszonen der Welt durchgerechnet: im Bereich Cascadia, der die mittlere Pazifikküste des Nordamerikanischen Kontinents umfasst (British Columbia (Kanada), Washington, Oregon (USA)); an der Pazifikküste Chiles und im Himalaya.
Beispiel Cascadia-Subduktionszone Nordamerika
Für die Cascadia-Subduktionszone simulierten sie beispielsweise 1,9 Millionen synthetische Erdbeben entlang eines zweidimensionalen Querschnitts. Dimension und Verteilung der Beben waren aus seismischen Katalogen vergangener Ereignisse und gemäß der bekannten Geologie vor Ort abgeleitet. Ausgehend von aktuellen Seismizitätsraten der Region schätzen die Forschenden, dass das eine Entwicklung von ca. 72.000 Jahren bzw. 140 Erdbebenzyklen abdeckt.
„Daraus ergibt sich eine langfristige Hebung, die wie eine Scharnierlinie zwischen seewärts gerichteter Absenkung und landwärts gerichteter Hebung der Erdoberfläche liegt. Sie ist deckungsgleich mit der Kante des Cascadia-Schelfs und dem abwärts gerichteten Ende der gekoppelten Kontaktfläche, was frühere Interpretationen unterstützt“, erläutert Malatesta. „Darüber hinaus liegen die von uns ermittelten Hebungsraten in einer Größenordnung, die zu den Meeresterrassen passt. Daher glauben wir, dass der von uns zugrunde gelegte Mechanismus brauchbar ist, um die langfristige Entwicklung der Region zu beschreiben.“
Auch für die anderen Regionen fanden die Forschenden gute Übereinstimmungen zwischen ihrem Modell und den realen Gegebenheiten.
Résumé
„Der von uns gefundene Mechanismus erklärt die Beziehung zwischen den angehobenen Gebieten und den stark gekoppelten Bereichen der Megathrust. Er ermöglicht es einerseits, Entwicklungen der Megathrust-Kopplung in den Subduktionszonen der Welt über geologische Zeiten nachzubilden und in Regionen, die ein großes Beben erlebt haben, zu verstehen, ob der zugrundeliegende Bruch typisch oder ungewöhnlich war. Darüber hinaus lassen sich auf dieser Basis neue Erkenntnisse über das Erdbebenpotenzial dort gewinnen und die künftige seismische Gefährdung bewerten, insbesondere in Regionen, die nicht von geodätischen oder seismischen Messnetzwerken abgedeckt sind“, resümiert Malatesta.
Originalpublikation:
Bar Oryan et al., Megathrust locking encoded in subduction landscapes.Sci. Adv.10,eadl4286(2024). DOI:10.1126/sciadv.adl4286
https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adl4286
Hintergrund: Subduktionslandschaftsforschung am GFZ
Die nun vorliegende neue Studie ist der Schlussstein einer ganzen Reihe von Arbeiten, in denen Wissenschaftler:innen des GFZ im Laufe der Jahre entscheidende Beweise für die Verbindung zwischen seismischen Feldern und der darüber liegenden Landschaft erbracht haben:
Luca Malatesta und Kolleg:innen (Sektion 4.7 „Oberflächenprozessmodellierung“) fanden heraus, dass der Rand des Kontinentalschelfs als Orientierungshilfe dienen kann, um das tiefere Ende des gekoppelten Felds zu finden.
Publikation: Malatesta, L. C., Bruhat, L., Finnegan, N. J., & Olive, J. L. (2021). Co-location of the downdip end of seismic coupling and the continental shelf break. Journal of Geophysical Research: Solid Earth, 126, e2020JB019589. https://doi.org/10.1029/2020JB019589
Vassiliki Mouslopoulou, Onno Oncken (Sektion 4.1 „Dynamik der Lithosphäre“), Sebastian Hainzl (Sektion 2.1 „Erdbeben- und Vulkanphysik“) und Kollegen zeigten, dass Gruppen von Erdbeben oberhalb von Subduktionen Muster von lokalisierten Hebungen erzeugen können.
Publikation: Mouslopoulou, V., O. Oncken, S. Hainzl, and A. Nicol (2016), Uplift rate transients at subduction margins due to earthquake clustering, Tectonics, 35, 2370–2384, doi:10.1002/2016TC004248.
Und schließlich zeigten Mathias Rosenau, Jo Lohrmann und Onno Oncken (Sektion 4.1 „Dynamik der Lithosphäre“) anhand eines maßstabsgetreuen physikalischen Modells einer gesamten Subduktion, dass wiederholte große Erdbeben eine dauerhafte Landschaftssignatur hinterlassen.
Publikation: Rosenau, M., J. Lohrmann, and O. Oncken (2009), Shocks in a box: An analogue model of subduction earthquake cycles with application to seismotectonic forearc evolution, J. Geophys. Res., 114, B01409, doi:10.1029/2008JB005665.
Romain Jolivet von der ENS Paris, der derzeit im Rahmen eines Bessel-Preises der Humboldt-Stiftung in der Sektion 4.1 am GFZ forscht, zeigte, dass sich die langfristige Deformation über der chilenischen Subduktion in satellitengestützten Messungen der Deformation zwischen großen Erdbeben widerspiegelt.
Publikation: Jolivet R., Simons, M., Duputel, Z., Olive, J.-A., Bhat, H. S., & Bletery, Q. (2020). Interseismic loading of subduction megathrust drives long-term uplift in Northern Chile. Geophysical Research Letters, 47, e2019GL085377. https://doi.org/10.1029/2019GL085377