Aktiv mitforschen: Citizen Science
Citizen science ist Forschung, die aktiv von Menschen unterstützt wird, die nicht professionell als Wissenschaftler:innen arbeiten. Häufig unterstützen engagierte Teilnehmer:innen Forschungsaktivitäten, die von Wissenschaftler:innen aus Forschungszentren und Universitäten organisiert werden, aber manchmal organisieren Bürger:innen auch ihre eigene wissenschaftliche Arbeit. Citizen science unterscheidet sich von Wissenschaftskommunikation darin, dass citizen science immer zum Ziel hat, eine aktuell offene wissenschaftliche Fragestellung zu beantworten. Bürgerwissenschaftler:innen können auch an der Festlegung der wissenschaftlichen Agenda und der Gestaltung von Forschungsprojekten beteiligt sein, insbesondere wenn die wissenschaftliche Frage eine starke gesellschaftliche Relevanz hat
Citizen-Science-Projekte werden häufig initiiert, wenn es gilt, große oder räumlich verteilte Datenmengen zu sammeln oder auszuwerten, durch andere Methoden (z.B Satelliten) gemessene Daten zu überprüfen oder eben Daten zu erheben, die unmittelbar oder aber über einen langen Zeitraum erhoben werden müssen.
Warum für die Wissenschaft interessant?
Für wissenschaftliche Erhebungen haben wir oft hoch spezialisierte und exakte Sensoren. Menschliche Wahrnehmungen haben aber − trotz ihrer natürlichen Einschränkungen − einige Vorteile: Sie können Daten liefern, die von Sensoren nicht erfasst werden. So sind Sensornetze manchmal zu weit verteilt, um alle auftretenden Ereignisse zu beobrachten. Ein anderes Beispiel sind Satellitenmessungen. Satelliten liefern nur Daten des Teils der Erdoberfläche, den sie überfliegen. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie oft nur zu einer bestimmten Tageszeit Daten erheben. Menschen können daher wertvolle ergänzende Daten liefern, einerseits weil sie zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten beobachten können und andererseits weil sie die Umwelt und die Erdoberfläche aus einer anderen Perspektive betrachten.
Es kommt zudem vor, dass Messstationen zerstört werden – zum Beispiel wenn Abflusspegel durch ein Hochwasser fortgerissen werden. Dann sind Beobachtungen von Personen besonders wertvoll. Sensoren erfassen in der Regel auch nur bestimmte, vordefinierte Merkmale und Perspektiven; Menschen mit ihrer Wahrnehmung hingegen sind in der Lage, fehlende Merkmale zu ergänzen und flexibel zu reagieren. In manchen Fällen geht es aber auch um Schnelligkeit: Menschen können als Augenzeugen eines Ereignisses aktuelle Daten viel schneller bereitstellen als es für Wissenschaftler:innen möglich ist. Es gibt demnach viele Möglichkeiten für Freiwillige, wertvolle Daten bereitzustellen, die nicht auf anderen Wegen erlangt werden können.
Menschen erheben in einigen Fällen die „besseren“ Daten
Es gibt einige Fälle, insbesondere wenn es um menschliche Sinne wie Riechen und Sehen geht, in denen menschliche Beobachtungen leichter zu interpretieren sind als Messungen durch Sensoren. Ein Beispiel für eine solche Situation, in der das GFZ aktiv war, sind die Übergänge der Außenbeleuchtung. Da das menschliche Sehvermögen zwischen dem Tag- und dem Nachtmodus wechselt (wobei sich die Empfindlichkeit vom grünen zum blauen Bereich verschiebt), stimmen Beobachtungen von Straßen oder des Nachthimmels, die von Kameras oder Satelliten aufgenommen werden, nicht mit den Erfahrungen der Menschen am Boden überein.
Die derzeitigen Satellitenbeobachtungen werden stark durch das Problem beeinträchtigt, dass bei der Umstellung von orangefarbenen Natriumdampflampen auf weiße LEDs die vom Satelliten gemeldete Helligkeitsänderung nicht mit der von menschlichen Beobachter:innen gemeldeten übereinstimmt. Ein ähnliches Problem ist, dass Satelliten zwar nach oben gerichtetes Licht erfassen, nicht aber seitlich gerichtetes Licht (z. B. von einer Werbetafel mit einem Videodisplay). Die Daten von menschlichen Beobachter:innen in einer Reihe von bürgerwissenschaftlichen Experimenten ergänzen daher die Satellitendaten und helfen uns, sie besser zu verstehen.
Aktuelles: Nachtlicht-BüHNE im Wissenschaftsjahr 2023
Projektmittel aus dem Helmholtz-Innovationspool und Begleitung des Wissenschaftsjahres 2023
Nachtlicht-BüHNE
Der Helmholtz-Think-Tank initiierte im Jahr 2019 die Förderung neuer spannender Projekte mit Citizen-Science-Ansatz. Drei Jahre lang wurden diese Projekte aus dem Impuls- und Vernetzungsfonds des Präsidenten gefördert. Gewonnen hatte hier unter anderem das Bürger-Helmholtz-Netzwerk für die Erforschung von nächtlichen Lichtphänomenen, an welchem sowohl das Deutsche GeoForschungsZentrum (GFZ) als auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) und das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) beteiligt sind. Nun hat im Rahmen des Wissenschaftsjahres 2023 "Unser Universum" eine neue Phase des Projektes mit überarbeiteten Forschungsfragen begonnen.
In zwei Pilotstudien zu den Themen Lichtverschmutzung und Meteorforschung wird in der Nachtlicht-BüHNE gemeinsam mit Bürger:innen ein Co-Design-Ansatz für App-basierte Citizen-Science-Projekte entwickelt. Ziel ist es, alle Lichter in einem vordefinierten Raum einer Stadt zu erfassen. Co-Design bedeutet, dass Wissenschaftler:innen der Helmholtz Zentren gemeinsam mit Bürgerwissenschaftler:innen an der Entwicklung und Umsetzung des Projekts sowie an der Veröffentlichung der Ergebnisse arbeiten.
Citizen Science am GFZ
Verlust der Nacht App | App zur Erfassung der Himmelshelligkeit
Dieses Citizen-Science-Projekt untersucht, welche Sterne im urbanen Raum noch am Himmel zu entdecken sind, und damit, wie groß die Lichtverschmutzung ist. In Regionen, die keine künstlichen Lichtquellen aufweisen, können nachts noch bis zu 6000 Sterne entdeckt werden. In Berlin können nur einige 100 Sterne gesehen werden.
Ziel des Projekts ist herauszufinden, wie sich die Himmelshelligkeit über die Jahre aufgrund von Lichtverschmutzung verändert. Eine App leitet zu bestimmten Sternen und fragt, ob man diese sehen kann. Die Helligkeit des am schwächsten noch sichtbaren Sterns gibt Aufschluss darüber, wie hell der Himmel ist.
Zur App: Verlust der Nacht | Status: beendet
“My Sky at Night” | Karte Lichtverschmutzung
"My Sky at Night" visualisiert bürgerwissenschaftliche Messungen von Lichtverschmutzung überall auf der Welt auf einer Landkarte. Mit Hilfe der Sternenzähler (Bürgerwissenschaftler:innen) wollen die Wissenschaftler:innen vom GFZ auch herausfinden, in welche Richtung sich die Lichtverschmutzung verändert – etwa durch den weltweiten Wechsel der Leuchtmittel in Straßenlaternen von Natriumdampflampen hin zu LEDs. Je größer die Lichtverschmutzung ist, desto weniger Sterne sind zu sehen.
Zum Projekt: My Sky at Night | Status: laufend
Radiance Light Trends | Satellitendaten
Satellitendaten stehen häufig kostenlos im Internet zur Verfügung und können von jedem heruntergeladen werden. In den meisten Fällen wissen Laien aber nicht, wo sie zu finden sind und wie sie mit den extrem großen Datenmengen umgehen sollen. Im Rahmen des Horizont-2020-Projekts „GEO-Essential“ leitete das GFZ die Entwicklung einer Webanwendung, mit der Bürgerforschende auf Satellitendaten zugreifen und eigene Analysen durchführen können. In der Webanwendung „Radiance Light Trends“ können interessante Regionen eingezeichnet, ein Satellit auswählt und innerhalb weniger Augenblicke ein Diagramm der monatlichen oder jährlichen Veränderungen der künstlichen Lichtemissionen betrachtet werden. Die Daten können auch heruntergeladen werden, um eine wiederholte Analyse in der Zukunft zu ermöglichen. Der dieser App zugrundeliegende Code wurde im Rahmen der Open-Source-Lizenz für die Europäische Union (EUPL) veröffentlicht und könnte in Zukunft an jede andere Satellitenzeitreihe angepasst werden, z. B. an die Eisbedeckung von Meer und Land oder die Phänologie von Pflanzen.
Zum Projekt: Radiance Light Trends | Status: laufend
AgriSens – Demmin 4.0 | Einsatz von Fernerkundungstechnologien für die Digitalisierung im Pflanzenbau
AgriSens – Demmin 4.0 dient der Nutzung von Geoinformation im Pflanzenbau. Projektkoordinator ist das GFZ. Das GFZ leitet im Projekt das Arbeitspaket 2 des Daten-Innovationspools und fokussiert sich dabei auf die Fusion von Satellitendaten unterschiedlicher Sensoren für landwirtschaftliche Fragestellungen. Das Projekt hat auch eine Citizen Science Komponente. Wissenschaftler:innen des DLR und der Universität Jena entwickeln Citizen-Science-Strategien, welche Landwirtschaft betreibende Personen in die Datenerhebung miteinbeziehen. Dadurch kann zum Beispiel ortsgebundenes Wissen für die Kartierung von Minderertragsflächen erfasst werden.
Zum Projekt: AgriSens – Demmin 4.0 | Status: laufend
PostDistiller | Schnelle Infos bei Überflutungen
Ein Problem bei der Erfassung des Ausmaßes von Hochwässern ist bisher, dass traditionelle Datenquellen wie Fernerkundungsdaten von Satelliten nicht unmittelbar zur Verfügung stehen. Gerade in Siedlungsgebieten ist es aber von besonderer Wichtigkeit, dass schnell Informationen zur Überflutungssituation vorliegen. Rettungskräfte müssen sich einen Überblick verschaffen, um Rettungsmaßnahmen einleiten zu können und mögliche weitere Schäden zu begrenzen.
Gerade in Siedlungsgebieten sind jedoch auch viele Nutzer:innen sozialer Medien aktiv. Fotos aus betroffenen Gebieten werden meist unmittelbar mit Beginn eines katastrophalen Ereignisses von Augenzeug:innen aufgenommen und über soziale Netzwerke wie Twitter oder Flickr geteilt. Ein Wissenschaftler:innen-Team hat die Software PostDistiller entwickelt, durch deren Einsatz die Posts aus den sozialen Netzwerken bei der Erfassung der Ausmaße eines Hochwassers helfen können.
Zum Projekt: PostDistiller│Status: abgeschlossen
PALESCA | Erfassung lokaler Wasserqualität
Im Rahmen von Paläoklima-Untersuchungen im Global-Change-Observatorium des GFZ in Zentralasien werden in Kirgisistan zunehmend auch Citizen-Science-Ansätze genutzt. Über das 2019 abgeschlossene BMBF-Projekt PALESCA wurden Smartphones mit entsprechenden Sensoren und Wasserchemie-Testkits sowie Wetterstationen an lokalen Schulen im Gebiet Jalalabad übergeben, mit denen neben meteorologischen Parametern vor allem auch Daten zur lokalen Wasserqualität gesammelt werden. Für hydrologische Messreihen wird neuerdings zudem die von der Universität Zürich entwickelte Smartphone-App „CrowdWater“ genutzt.
Zum Projekt: PALESCA | Status: abgeschlossen
Zur App: CrowdWater | Status: laufend
Citizen Science Projekte im deutschsprachigen Raum | Überblick
In den Helmholtz-Forschungszentren
- Übersicht über die Citizen Science Projekte der Helmholtz-Gemeinschaft.
- Zur Helmholtz Gemeinschaft gehören diese Forschungszentren.
Deutschland, Österreich und der Schweiz
- Deutsche Citizen-Science-Plattform: «Bürger schaffen Wissen» ist die zentrale Plattform für Citizen Science in Deutschland. D.h. nicht, dass die Forschung bzw. die Projekte nur hier in Deutschland angesiedelt sind. «Bürger schaffen Wissen» versteht es als Aufgabe, die Bürgerforschung in Deutschland weiterzuentwickeln, bekannter zu machen und über Projekte zum Mitforschen zu informieren. Die Plattform präsentiert, vernetzt und unterstützt Citizen-Science-Projekte.
- Österreichische Citizen-Science-Plattform
- Schweizer Citizen-Science-Plattform