Vor einem Jahr bebte die Erde in der türkisch-syrischen Grenzregion. Vor allem die hohe Zahl der Opfer war nicht erwartet worden. Ein Q&A und relevante Studien.
Die Katastrophe zählt zu den verheerendsten Naturereignissen des 21. Jahrhunderts: Etwa 60.000 Menschen starben und mehr als doppelt so viele wurden verletzt, als vor einem Jahr die Erde bebte. In den frühen Morgenstunden des 6. Februar 2023 erschütterte ein sehr starker Erdstoß der Magnitude 7,8 den Osten der Türkei und den Norden Syriens. Neun Stunden später folgten ein Beben der Magnitude 7,5 sowie im weiteren Verlauf zahlreiche Nachbeben.
Es gab einige Besonderheiten bei dieser Erdbebenserie, manches war aus Forschungssicht auch erwartet worden. Die Region war beispielsweise als Risikogebiet für ein schweres Erdbeben bekannt und entsprechend in Gefährdungskarten dargestellt. Das führte zu strengen Baunormen und nicht zuletzt auch einer dichten Bestückung mit seismischen Messstationen. Überraschend war dagegen, dass es zu zwei so schweren Erdstößen kurz hintereinander kam.
Am meisten überraschte die Forschenden jedoch das Ausmaß der Opferzahlen. Es gab aktuelle Modelle aus dem Jahr 2020, die von einem Erdbeben mit einer Stärke ausgingen, die der tatsächlichen Stärke vom Februar 2023 sehr nahe kam. Die Modelle, die zur Erstellung der europäischen Risikokarte 2020 verwendet wurden (Crowley et al., 2021), sagten für beide Ereignisse insgesamt 15.000 Todesopfer für die Türkei voraus – in Wirklichkeit waren es mehr als dreimal so viele: 51.000 Todesopfer allein in der Türkei (Weatherill et al., 2023). In den folgenden Monaten wurde intensiv nach den Mechanismen und Merkmalen der Erdbebenserie geforscht.
Hier haben wir einige Fragen und Antworten mit den jeweiligen Studien dazu zusammengestellt.
Warum hat es gerade dort so schwer gebebt?
Die Türkei wird von zwei großen aktiven seismischen Zonen durchzogen. Die Beben vom 6. Februar ereigneten sich entlang der ostanatolischen Verwerfungszone (EAFZ – East Anatolian Fault Zone). Hier treffen die anatolische und die arabische Platte aufeinander und bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 1,4 cm/Jahr seitlich aneinander vorbei (Bulut et al, 2012). Durch diese Reibung kommt es in unregelmäßigen Abständen zu zum Teil starken Erdbeben.
Patricia Martínez-Garzón, Arbeitsgruppenleiterin in der GFZ-Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“, sagt: „Das letzte Erdbeben der Stärke M 7,0 in diesem Teil der EAFZ ereignete sich vor etwa 200 Jahren. Die gesamte Zone hat also über diesen langen Zeitraum Spannungen aufgebaut, und es war nur eine Frage der Zeit, bis ein weiteres großes Erdbeben der Stärke M > 7 auftreten würde. Nicht zuletzt deshalb wurde das Gebiet mit vielen Messinstrumenten gut überwacht.“
Kontakt: Dr. Patricia Martínez-Garzón
Arbeitsgruppenleiterin in Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“
patricia.martinez.garzon@gfz-potsdam.de
Was war am zweiten Beben so besonders?
Das erste Beben ereignete sich an einer Verwerfungszone, die als aktiv bekannt war. Dabei wurde der südwestliche Teil dieser ostanatolischen Verwerfungszone auf einer Länge von rund 370 Kilometern und von der Oberfläche bis in eine Tiefe von etwa 20 Kilometer aktiviert.
Patricia Martínez-Garzón, Arbeitsgruppenleiterin in der Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“: „Nordöstlich des ersten Erdbebenherdes an der ostanatolischen Verwerfungszone gibt es eine Art Seitenast der Verwerfung, der aktuell als inaktiv galt. Das zweite Beben mit einer Magnitude von 7,5 ereignete sich dort. In dieser als nicht so aktiv eingeschätzten Region gab es weniger Messinstrumente. Das zweite Beben war so stark, dass die Erschütterungen viele der bereits vom ersten Beben vorgeschädigten Gebäude zum Einsturz brachten.“
Kontakt: Dr. Patricia Martínez-Garzón
Arbeitsgruppenleiterin in Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“
patricia.martinez.garzon@gfz-potsdam.de
Warum starben so viele Menschen?
Forschende, die sich mit Erdbebenvorsorge beschäftigen, hatten in Modellen ein Beben der Stärke 7,6 an der ostanatolischen Verwerfungszone simuliert. Sie hatten mit einem Drittel der tatsächlichen Opfer gerechnet.
Fabrice Cotton, Leiter der Abteilung für seismische Gefahren und dynamische Risiken, zitiert einen Leitsatz der Erdbebenforschung: „Nicht Erdbeben töten Menschen, sondern Gebäude“. Er fügt hinzu: „Deshalb gibt es in gefährdeten Regionen Baunormen. Diese werden aber nicht überall gleich gut angewendet, und es gibt auch Gebäude, die vor dem Inkrafttreten der strengeren Normen errichtet wurden. Das zweite Erdbeben, das bereits beschädigte Häuser dauerhaft zerstörte, war ein zusätzlicher schädlicher Faktor. Dennoch müssen künftige Modellrechnungen noch genauer als bisher an den tatsächlichen Gebäudebestand angepasst werden. Künftige Modelle werden auch die Auswirkungen kumulierter Schäden durch eine Reihe von Erdbeben berücksichtigen.“
Kontakt: Prof. Dr. Fabrice Cotton
Leiter GFZ-Sektion 2.6 „Erdbebengefährdung und dynamische Risiken“
fabrice.cotton@gfz-potsdam.de
Was hat die Forschung aus der Bebenserie gelernt?
Es gibt mehrere wichtige Lehren aus der Katastrophe:
Erstens ist es derzeit noch nicht möglich, verlässlich Vorläuferphänomene zu identifizieren, die eine Warnung der Bevölkerung kurz vor einem bevorstehenden Erdbeben zulassen würden. Es gibt aber Hinweise auf einen „Vorbereitungsprozess“:
Grzegorz Kwiatek, Arbeitsgruppenleiter in der Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“, sagt: „Die Analyse der raum-zeitlichen Verteilung der regionalen Seismizität führte zu der Beobachtung eines achtmonatigen Vorbereitungsprozesses in der Region um das Epizentrum. Das weist auf eine hohe und – was noch wichtiger ist – zunehmende seismische Gefahr in dieser Region hin. Eine derartige raum-zeitliche Fokussierung von Seismizität vor dem Bruch der Gesteinsprobe ist aus kontrollierten Gesteins-Deformationsexperimenten im Labor bekannt. Das gleiche Phänomen gab es in den letzten Jahrzehnten bei mehreren, allerdings bei weitem nicht bei allen, großen Erdbeben entlang kontinentaler Verwerfungszonen.“
Marco Bohnhoff, Leiter der Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“ sagt: „Unsere Studie zeigt, dass es auf Basis geeigneter und lokal dichter Messnetze prinzipiell möglich ist, Orte bevorstehender Erdbeben bereits Monate vor deren Eintreten zu identifizieren. Das gibt den lokalen Behörden wichtige Informationen an die Hand, um die Resilienz von Bevölkerungszentren in der Nähe aktiver Verwerfungen zu verbessern.“
Mehr dazu:https://www.gfz-potsdam.de/presse/meldungen/detailansicht/tuerkei-beben-2023-die-analyse
Zweitens können Smartphones helfen, Frühwarnungen auszusprechen und die Folgen eines Erdbebens früher abzuschätzen als herkömmliche Messungen, wenn die seismologischen Netze nur spärlich vorhanden oder nicht für Frühwarnungen ausgelegt sind. Auf der Konferenz „Falling Walls“ im November 2023 in Berlin stellte Fabrice Cotton eine Studie seines Kollegen Francesco Finazzi von der Universität Bologna vor, an der er selbst beteiligt war. Laut der Studie (sie ist derzeit im Begutachtungsprozess) kann die von der Universität Bologna entwickelte App (EQN) Erschütterungen messen und melden und so eine Frühwarnung geben. Das erste Beben in der Türkei wurde bereits nach zehn Sekunden erkannt. Für weiter entfernte Städte, die schwer getroffen wurden, gab es daher eine Vorwarnzeit von bis zu einer Minute, da sich Erdbebenwellen langsamer ausbreiten als Warnsignale: Eine Minute, um vielleicht Schutz unter Türrahmen zu suchen, ins Freie zu rennen oder Ampeln vor Brücken auf Rot zu stellen usw. Derzeit werden Tests durchgeführt, um das Potenzial und die Grenzen solcher neuen, auf Smartphones basierenden Frühwarntechnologien zu bewerten.
Eine andere App („lastquake“ von EMSC) und ihre mehr als 1.000 Nutzenden in der Nähe des Epizentrums waren in der Lage, das Ausmaß der Erschütterung des Erdbebens innerhalb von zehn Minuten zu bewerten. Am GFZ wurden Methoden entwickelt, um die Nutzung dieser neuen Art von Daten zu erforschen und die Auswirkungen von Erdbeben auf schnelle Weise (10 Minuten) zu bewerten (Lilienkamp et al., 2023).
Eine dritte Lehre ist: Zudem helfen neu entwickelte Computer-Modelle, die Auswirkungen von Erdbeben im Voraus zu simulieren (also den Impakt). Diese müssen allerdings noch mehr als bisher die tatsächlichen Gegebenheiten der lokalen Vorschriften, ihrer Einhaltung und das Verhalten der Menschen abbilden, um zu verlässlicheren Aussagen über das erwartete Schadens-Ausmaß zu kommen. Nur so können sich Katastrophendienste besser auf das Unvermeidliche vorbereiten.
Viertens: Die dichte Instrumentierung der gefährdeten Region und die Bereitstellung der Daten durch die türkischen Behörden auch über das ganze Vorjahr hinweg haben für die Forschung sehr wertvolle Erkenntnisse ermöglicht.
Kontakte:
Prof. Dr. Marco Bohnhoff
Leiter der Sektion 4.2 „Geomechanik und Wissenschaftliches Bohren“
marco.bohnhoff@gfz-potsdam.de
Prof. Dr. Fabrice Cotton
Leiter der GFZ-Sektion 2.6 „Erdbebengefährdung und dynamische Risiken“
fabrice.cotton@gfz-potsdam.de
Wird man solche Ereignisse zukünftig vorhersagen können?
Die Variabilität der verschiedenen vor Erdbeben beobachteten Prozesse sowie die Schwierigkeit, Vorläuferphänomene, die zu Erdbeben führen, von anderen, nichtrelevanten Signalen zu unterscheiden, stellen nach wie vor eine große Herausforderung dar. Eine mittelfristige Erdbebenwarnung Monate vorher – sofern überhaupt möglich – liegt noch in der Zukunft der Seismologie.
Um diesem Ziel jedoch Schritt für Schritt näher zu kommen, entwickeln Forschende des GFZ aktuell verfeinerte Methoden, nutzen Künstliche Intelligenz und versuchen die Lücke zwischen Laborexperiment und großen Beben durch Feldversuche zu schließen. Eine Grundvoraussetzung hierfür ist, die sogenannte Observationslücke zu verkleinern, also in erdbebengefährdeten Gebieten sehr dichte lokale Messnetze aufzubauen, um die Prozesse im Untergrund genauer erfassen zu können.
Originalpublikationen:
Bindi, D., Zaccarelli, R., Cotton, F., Weatherill, G., Reddy Kotha, S. (2023): Source Scaling and Ground-Motion Variability along the East Anatolian Fault. - The Seismic Record, 3, 4, 311-321.
doi.org/10.1785/0320230034
Crowley H., Dabbeek J., Despotaki V., Rodrigues D., Martins L., Silva V., Romão, X., Pereira N., Weatherill G. and Danciu L. (2021) European Seismic Risk Model (ESRM20), EFEHR Technical Report 002, V1.0.0, 84 pp,
https://doi.org/10.7414/EUC-EFEHR-TR002-ESRM20
Danciu, L., Nandan, S., Reyes, C. G., Basili, R., Weatherill, G., Beauval, C., ..., Cotton F., Wiemer, S. & Giardini, D. (2021). The 2020 update of the European Seismic Hazard Model-ESHM20: Model Overview. EFEHR Technical Report, 1.
https://doi.org/10.3929/ethz-b-000590386
Karasözen, E., Buyukakpinar, P., Ertuncay, D., Havazlı, E., Oral, E. (2023): A call from early‑career Turkish scientists: seismic resilience is only feasible with “earthquake culture”. - Seismica, 2, 3.
doi.org/10.26443/seismica.v2i3.1012
Kwiatek, G., Martínez-Garzón, P., Becker, D., Dresen, G., Cotton, F., Beroza, G. C., et al. (2023). Months-long seismicity transients preceding the 2023 MW 7.8 Kahramanmaraş earthquake, Türkiye. Nature Communications, 14(1), 7534.
https://doi.org/10.1038/s41467-023-42419-8
Lilienkamp, H., Bossu, R., Cotton, F., Finazzi, F., Landès, M., Weatherill, G., & von Specht, S. (2023). Utilization of Crowdsourced Felt Reports to Distinguish High‐Impact from Low‐Impact Earthquakes Globally within Minutes of an Event. The Seismic Record, 3(1), 29-36.
https://doi.org/10.1785/0320220039
Petersen, G., Buyukakpinar, P., Orlando, F., Sanhueza, V., Metz, M., Cesca, S., Akbayram, K., Saul, J., Dahm, T. (2023): The 2023 SE Türkiye seismic sequence: Rupture of a complex fault network. - The Seismic Record, 3, 2, 134-143.
doi.org/10.1785/0320230008
Weatherill, G., Cotton, F., Crowley, H., Danciu, L., Sesetyan, K., Cakti, E., ... & Türker, E. (2023). The 6 February 2023 Türkiye Earthquakes: Insights for the European Seismic Hazard and Risk Models (No. EGU23-17610). Copernicus Meetings.
https://doi.org/10.5194/egusphere-egu23-17610