Dr. Elisabeth Dietze und Dr. Michael Dietze sind Geographen am GFZ, in den Sektionen „Klimadynamik und Landschaftsentwicklung“ und „Geomorphologie“. Sie haben zusammen einen Algorithmus zur Endmember-Modellierung von Korngrößendaten – EMMAgeo – über eine open source Software verfügbar gemacht. Was genau dieser Algorithmus ist und wie man ihn für die Klima- und Umweltforschung einsetzen kann, erklären Sie im Interview.
GFZ: Sie arbeiten beide als Geomorphologen beziehungsweise Sedimentologen hier am GFZ. Was genau macht man als Geomorphologe?
Dr. Michael Dietze: Als Geomorphologe beschäftigt man sich mit der Entstehung der Erdoberfläche; mit den Formen, die eine Landschaft bilden und mit den Prozessen, die diese geschaffen haben, mit den Eigenschaften dieser Formen und schließlich auch mit der Entstehungsgeschichte der gesamten Landschaftsform.
GFZ: Und was ist der konkrete Ausschnitt, mit dem man sich als Sedimentologe beschäftigt?
Dr. Elisabeth Dietze: Als Sedimentologe untersucht man Landschaftsformen, indem man sich den Aufbau dieser Formen anschaut, die häufig aus Sedimenten bestehen. Diese Sedimente verraten viel über die Entstehungsprozesse. Man schaut sich dazu verschiedene Parameter aus den Sedimenten an; z.B. die enthaltenen Minerale oder die Größen der Körner, die das Sediment bilden. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Herkunft des Sediments, aber auch auf die Transportprozesse ziehen.
GFZ: Sie haben jetzt ein Softwarepaket namens EMMAgeo zur Endmember-Modellierung von Sedimenten entwickelt. Dazu zunächst mal die Frage, was genau ist eine Endmember-Modellierung?
E. Dietze: Endmember-Modellierung ist ein statistisches Verfahren, welches im weitesten Sinne erlaubt, gemischte Prozesse oder gemischte Daten statistisch zu entmischen und damit das „Hintergrundrauschen“ von den eigentlichen Signalen zu trennen. Das haben wir auf Korngrößendaten angewendet. Das Verfahren lässt sich aber in den verschiedensten Fachdisziplinen anwenden, beispielsweise auch in der Fernerkundung.
M. Dietze: Die ganze Geschichte geht auf Geert Jan Weltje zurück, der vor etwa 18 Jahren einen Ansatz zur Endmember-Modellierung für die Programmiersprache FORTRAN entwickelt hat. Um das Verfahren auch anderen Arbeitsgruppen zur Verfügung zu stellen, die nicht dieses FORTRAN-Programm besitzen, hat die Arbeitsgruppe von Elisabeth an der FU Berlin* diesen Algorithmus für die Software MATLAB umgesetzt. Der Quellcode wurde offengelegt, so dass andere den Algorithmus abändern, modifizieren können.
Und der Schritt weiter, den wir nun zusammen umgesetzt haben, war, das Ganze völlig offen und frei zugänglich, also auch kostenfrei, verfügbar zu machen. Dafür haben wir das MATLAB-Script für die Programmiersprache R umgeschrieben, mit weiteren Funktionen, einer Dokumentation und Beispieldaten ergänzt, so dass nun jeder Interessierte vom fertigen Messdatensatz zum Endmember-Modellierungs-Output, d.h. zu entmischten und interpretierbaren Korngrößenverteilungen kommen kann.
GFZ: Welche Signale sind es denn beispielsweise, die man aus dem Sediment erhält und was erfährt man durch den Einsatz von EMMAgeo?
E. Dietze: Zum Beispiel woher das Sediment kommt, durch welchen Prozess – z.B. Wind oder fließendes Wasser –, mit welcher Energie oder wie weit es transportiert wurde. Je größer die Partikel im Sediment sind, desto mehr Energie muss aufgebracht werden, um sie zu bewegen. Jeder Transportprozess neigt dazu, ganz charakteristische Korngrößenverteilungen zu erzeugen. Damit kann man dann eben umgekehrt auch aus einer Korngrößenverteilung auf den Transportprozess schließen.
Das Problem ist aber, dass meist mehrere Prozesse im Spiel sind und damit die charakteristischen Korngrößenverteilungen in einer Probe gemischt werden. Und genau da kommt EMMAgeo ins Spiel. Der Endmember-Algorithmus in diesem neuen R-package kann diese Mischsignale wieder in die ursprünglichen Korngrößenverteilungen zerlegen.
Was wir durch den Einsatz des neuen Algorithmus beobachten können, ist beispielweise, dass häufig genau an den klassischen Korngrößengrenzen, zwischen Sand und Schluff zum Beispiel, Maxima auftreten. Dass also oftmals ein großer Anteil der Sedimentkörner in einer Sedimentprobe zwischen zwei Korngrößenklassen liegt. Das würde man nicht erkennen, wenn man sich, wie bisher, nur Mittelwerte anschaut. Die Endmembermodellierung hingegen behält die Informationen aller gemessenen Korngrößenklassen bei und umgeht daher dieses Problem.
M. Dietze: Die klassischen Grenzen zwischen den Korngrößenklassen sind ja auch „rein willkürlich“ gesetzt. Es lässt sich ja nicht so einfach sagen, dass ein natürlicher Prozess bei 200 µm oder bei 63 µm abrupt Schluss macht und alles was größer als 63 µm ist, sich ausschließlich einem bestimmten Transportprozess zuordnen lässt. Es sind vielmehr kontinuierliche Verteilungsprozesse, die sich in unserem Modell viel besser abbilden lassen.
GFZ: Wie bestimmt man denn die Korngrößen, was ist da das methodische Verfahren?
M. Dietze: Die Bestimmung der Korngrößenverteilung einer Sedimentprobe ist eines der ältesten und klassischsten Probleme in der Geomorphologie und Sedimentologie. Das normalerweise untersuchte Spektrum an Korngrößen umfasst zwischen unter einem Mikrometer bis über mehrere Millimeter Größe. Klassischerweise wird der grobe Anteil, über 63 µm, über Siebanalysen gemessen, der feine Anteil über Sedimentationsanalysen oder Dichtemessungen eines Sediment-Wasser-Gemisches. Beides sind eher langwierige Verfahren - die Messung eine Probe dauert bis zu einem Tag - und liefern nur wenige Korngrößenklasen, 7 bis 20.
Neuere Ansätze, die es seit etwa 20 bis 30 Jahren gibt, nutzen das Verfahren der Laserbeugung. Ein Laserstrahl lässt sich beugen, wenn er um einen Partikel strahlt. Der Beugungswinkel ist umso größer, je kleiner der Partikel ist. Mit diesem Verfahren lassen sich Korngrößen in über hundert Klassen aufteilen.
Eine andere Methode fotografiert Sedimentkörner im freien Fall mit mehr als hundert Fotos pro Sekunde. So lassen sich alle Körner digitalisieren und durch 300 Korngrößenklassen beschreiben. Zwei solcher Geräte gibt es seit einigen Monaten am GFZ und nach erfolgreichen Tests beginnen wir jetzt die Kooperation mit mehreren Arbeitsgruppen am GFZ und externen Einrichtungen und untersuchen verschiedenste geomorphologische Systeme und Archive.
GFZ: Gibt es noch Weiteres, was EMMAgeo besser kann als andere Ansätze? Was man also nun Neues damit herausfinden kann?
E. Dietze: Was EMMAgeo auszeichnet ist, dass man nicht nur Transportprozesse entmischen und damit identifizieren kann, sondern sich auch quantifizieren lässt, zu welchem Anteil jeder Transportprozess eine Probe aufbaut. Wichtig ist uns auch, mit EMMAgeo die Unsicherheiten der Entmischung abschätzen zu können. Wir nennen das „robuste Endmember-Modellierung“.
Außerdem haben wir den Algorithmus mit natürlichen Proben getestet und validiert. Dazu haben wir vier Sedimenttypen mit bekanntem Ursprung im Labor gemischt, gemessen und danach wieder mit EMMAgeo erfolgreich statistisch entmischt. In diesen Tests haben wir je nach Sedimenttyp gute bis sehr gute Ergebnisse erzielt, sowohl beim Identifizieren als auch beim Quantifizieren. Man hat also mit EMMAgeo ein sehr zuverlässiges, hochgenaues und schnelles Verfahren zur robusten Korngrößenentmischung zur Verfügung.
GFZ: Können Sie konkrete Projekte beschreiben bei denen Sie den neuen Algorithmus einsetzen konnten?
E. Dietze: Im Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft zum Tibet-Plateau „TiP“ haben wir im Nordosten des Tibet-Plateaus einen See untersucht, wo sich an den Strandbereichen fluviale Sedimente mit äolischen (A. d. R. durch Wind transportiert) und Seesedimenten verzahnen. Mithilfe von EMMAgeo konnten wir aus den entmischten Korngrößendaten die Seespiegelschwankungen rekonstruieren und so zum Beispiel herausfinden, dass vor 9.000 Jahren der asiatische Monsun sehr stark war, die Seespiegel waren zu der Zeit extrem hoch.
In einem weiteren Projekt konnten wir in Sedimenten aus Wüstengebieten sowohl Sedimenttransportprozesse als auch deren Überprägung durch Bodenbildung beschreiben. Wir konnten also in diesem Fall anhand von charakteristischen Endmember-Daten spezielle Verwitterungsprozesse rekonstruieren und damit den Entstehungsprozess eines Wüstenbodens entschlüsseln. Daraus lassen sich dann wiederum Rückschlüsse auf die Bedingungen zur Zeit der Bildung ziehen, dort wo die Verwitterung stärker und die Bodenbildung intensiver war, waren die Umgebungsbedingungen deutlich feuchter als heute.
In aktuell laufenden Projekten nutzen wir EMMAgeo für die Analyse von Sedimenten, deren Korngrößenverteilungen in Submillimeterabständen beprobt sind, wir wenden EMMAgeo an auf mesozoische Deltasedimente aus zahlreichen Bohrkernen und analysieren Sedimente, die durch Hangverlagerungsprozesse gemischt wurden.
GFZ: Wofür braucht man diese Informationen aus dem Sediment?
E. Dietze: Letztlich braucht man diese Informationen aus Sedimenten zur Rekonstruktion der Landschaftsentwicklung auch, um zu verstehen, wie in der Vergangenheit die Klimaentwicklung in einer bestimmten Region war. Die Landschaft verändert sich eben durch die herrschenden Klimabedingungen, getrieben von den Prozessen, deren Korngrößensignatur wir analysieren. Wenn man die Vergangenheit kennt, kann man auch Vorhersagen für zukünftige Entwicklungen machen und mit den Daten aus den Sedimenten auch Klimamodelle speisen.
GFZ: Frau Dietze, Herr Dietze, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Beide: Wir danken für das Interview.
*Dr. Elisabeth Dietze war von 2008 bis 2012 an der FU Berlin in den Geographischen Wissenschaften beschäftigt, bevor sie 2012 ans GFZ kam.
Das Interview führte Ariane Kujau