42 Kilometer: So mächtig ist die kontinentale Erdkruste durchschnittlich – aber warum? Was bedeutet das für die Plattentektonik? Forschende haben neue Hinweise, dass bei dieser Mächtigkeit ein stabiles thermodynamisches Gleichgewicht herrscht.
Stabile Zustände? Gibt es fast nicht auf der Erde. Alles ist dynamisch, in Bewegung und verändert sich. Und dennoch findet sich in der Dynamik Stabilität: Forschende der Sektion 4.5 „Sedimentbeckenmodellierung“ am Deutschen GeoForschungsZentrum GFZ finden Hinweise, dass ein stabiles thermodynamisches Gleichgewicht zwischen der internen Energie der Lithosphären-Platte und den tektonischen Plattenrandkräften dann herrscht, wenn eine Erdkrustenmächtigkeit um etwa 42 Kilometer erreicht wird. Für ihre Studie nutzten die Wissenschaftler:innen Daten zur Mächtigkeit und zur chemischen Zusammensetzung der Erdkruste und des oberen Erdmantels im Bereich der Alpen-Himalaya Kollisions-Zone als Basis für thermomechanische Modelle, die die Festigkeit und Deformation der kontinentalen Lithosphäre in dieser Region beschreiben. Erschienen sind die Ergebnisse in Scientific Reports 13. Hauptautor der Studie ist Ajay Kumar, außerdem beteiligt waren Mauro Cacace und Magdalena Scheck-Wenderoth, Leiterin der GFZ-Sektion 4.5 und Direktorin des GFZ-Departments Geosysteme.
Die Verformung der Kontinente wird durch das Zusammenspiel von tektonischen und gravitativen Kräften gesteuert. Dieses Zusammenspiel verändert sich je nach Mächtigkeit und Festigkeit der Lithosphäre, die wiederum von der Temperatur abhängen. Dabei spielen Abweichungen von einem thermischen Gleichgewicht und das Wiedererreichen des Gleichgewichts (thermische Relaxation) eine wichtige Rolle. Diese Schwankungen um einen thermischen Gleichgewichtszustand können entweder zu der genannten Stabilisierung mit einer kritischen Krustenmächtigkeit führen oder aber zu einer Verstärkung des Ungleichgewichts, wenn deutlich höhere oder geringere Krustenmächtigkeiten vorliegen, die dann Deformationen der Lithosphärenplatte auslösen.
Um diese kritische Erdkrustenmächtigkeit zu bestimmen und zu belegen, haben sich die Wissenschaftler:innen der GFZ-Sektion 4.5 die immense Plattenkollisionszone, die sich von den Alpen bis zum Himalaya (AHCZ │Alpine-Himalayan Collision Zone) erstreckt, sehr genau angeschaut. Die AHCZ ist das Ergebnis der Schließung des Paläo-Tethys-Ozeans zwischen dem Südrand Eurasiens und dem Nordrand des Paläokontinents Gondwana. Die Kollisionszone umfasst kontinentale Lithosphäre unterschiedlichen tektonothermischen Alters. Anhand einer datengestützten thermomechanischen Modellierung der Kollisionszone konnten die Forschenden zeigen, wie Abweichungen von diesem Gleichgewicht zu kontinentaler Deformation in Beziehnung stehen. Insbesondere in den Bereichen entlang der AHCZ, wo die Kruste entlang der Gebirgsketten stark verdickt ist, führt das zu einer diffusen Verteilung der Deformation und damit einhergehender Seismizität.
Entscheidender Faktor ist dabei die radiogene Wärme, d.h. die Wärme, die die Kruste produziert und die entsteht, wenn radioaktive Elemente zerfallen. Ist die Erdkruste mächtiger als 42 Kilometer, führt die zusätzliche radiogene Wärme dazu, dass die interne Energie zunimmt und in Form von diffuser Deformation abgebaut wird. Unter Tibet, einer tektonisch sehr aktiven Zone, erreicht die Erdkruste beispielsweise eine Mächtigkeit von bis zu ca. 80 km. In vielen tektonisch aktiven Gebirgen der Erde ist die Erdkruste dicker als 42 Kilometer. Diese Unterschiede in der Mächtigkeit erklären, warum Seismizität im Bereich der AHCZ Kollisionszone breit und diffus verteilt auftritt, während entlang der Plattengrenzen lokalisierte Verformungen auftreten. So treten Erdbeben also in einer Kollisionszone, die zur Auffaltung von Gebirgen wie z.B. in Nepal führt, weit verteilt über das ganze Gebirge auf. An den Plattengrenzen hingegen, wie z.B. an den Subduktionszonen in Indonesien oder Chile, wo sich Platten über- oder untereinander schieben, oder entlang von Transformstörungen wie der San Andreas Störung, häufen sich Erdbeben recht genau entlang dieser Erdplattengrenzen.
Die in dieser Studie gefundene Erdkrustenmächtigkeit von etwa 42 Kilometern entspricht in etwa dem globalen Durchschnitt der heutigen kontinentalen Erdkruste. Diese Erdkrustenmächtigkeit ist zudem typisch für stabile alte Kratone. Dies sind die alten Kerngebiete der Kontinente, die meist aus kristallinen Gesteinen bestehen.
Die dissipative*, thermodynamische Rückkopplung zwischen thermischem Ausgleich der erhöhten internen Energie und mechanischer Relaxation der Plattenrandkräfte führt dazu, dass sich ein Gleichgewicht einstellt. Die Ergebnisse der Studie deuten außerdem auf einen genetischen Zusammenhang zwischen dem thermochemischen Zustand der Erdkruste und der tektonischen Entwicklung silikatischer erdähnlicher Himmelskörper (Merkur, Venus, Mond, Mars) hin. Dabei zeichnen sich grob drei Phasen ab: (1) eine Phase mit sehr hoher interner Energie, während der sich noch keine abgekühlten Platten ausbilden, (2) eine Phase der Plattentektonik, in der die Kräfte aufgrund der internen Energie der Platte mit den Plattenrandkräften im Gleichgewicht sind, und (3) eine Phase stagnierender Platten, in der die Kräfte aufgrund der internen Energie der Platte kleiner als die Plattenrandkräfte sind und dadurch die Festigkeit der Lithosphärenplatten zu groß wird, um deformiert zu werden und Plattentektonik zuzulassen.
*Dissipative Prozesse wandeln Energie irreversibel in Wärme um.
Originalstudie:
Kumar, A., Cacace, M. & Scheck-Wenderoth, M. Thermodynamics of continental deformation. Sci Rep 13, 19920 (2023). https://doi.org/10.1038/s41598-023-47054-3 / https://www.nature.com/articles/s41598-023-47054-3
Bildunterschriften (ausführlich):
Abb.:
a) Variation der langfristigen Krustenfestigkeit im Bereich der Kollisionszone, die sich von den Alpen bis zum Himalaya erstreckt und Verteilung der Seismizität aus ISC-GEM-Katalog (Storchak et al. 2013). Die Seismizität ist farblich nach Tiefe und Magnitude kodiert. Die kinematischen Plattengrenzen aus Bird (2003) sind als grüne Kurven eingezeichnet. In den kontinentalen Regionen zeigen dunklere Brauntöne eine dickere und weichere Kruste an, die den Gebirgen/Orogenen entspricht. Hellere Brauntöne deuten auf eine stärkere Kruste im stabilen Innerenbereich der Kontinente hin.
b) Darstellung der Krustenfestigkeit im Verhältnis zur Krustenmächtigkeit (Datenpunkte aus Crust 1.0, Laske et al. 2013), die eine positive Korrelation für Krustenmächtigkeiten bis zu ~42 km und eine negative Korrelation für Mächtigkeiten größer 42 km zeigt. Die farbigen Kreise zeigen die zu den Datenpunkten gehörige Topographie und sind in der Größe anhand der oberen Krustendicke skaliert. Weiße Kreise zeigen ein Szenario, in welchem keine radiogene Wärmeproduktion in der Kruste berücksichtigt wird, und demonstrieren, dass die Krustenfestigkeit kontinuierlich mit der Mächtigkeit zunehmen würde, wenn die interne Wärmeproduktion ausgeschaltet wäre.